Ein Liebesbrief.
Liebe Fiktion,
wie schön, dass es dich gibt. Wie schlimm es wäre, wenn es dich nicht gäbe. Was würde ich dann tun?
Bist du ein Zufluchtsort?
Manch einer würde sagen, wie verrückt es ist, Dich zu lieben. Manch einer mag so überzeugt sein von sich und seinem echten Leben, dass er Dich nicht braucht. Manch einer würde es belächeln, wenn man sich lieber Dir zuwendet, als dem Leben außerhalb dem Flackern des TV-Bildschirms oder dem Geräusch einer umblätternden Seite. Doch diese Leute wissen nur nichts mit Dir anzufangen. Diese Leute verstehen das nicht.
Schon als Kind warst du da, hast mich begleitet. Du hast mich auf Reisen mit einem kleinen Jungen, der mit Tieren sprechen konnte geschickt, hast meine Träume geebnet, in die Welten von Schauspielern und Sängern, an weit entfernten Orten am anderen Ende des Ozeans.
Ich bin mit Dir groß geworden, habe eigene Welten erschaffen und mich selbst entdeckt.
Bist du nun eine Flucht aus der Realität? Nein. Du bist eine Ergänzung, eine Erweiterung der Realität.
Durch Dich kann ich Dinge erleben, die sonst unmöglich sind.
Mit Dir kämpfe ich mich durch die Apokalypse und mittelalterliche, vom Krieg gebeutelte Landschaften. Ich kann mit Dir den größten Unsinn anstellen, wie in einer sonnigen Stadt Autos klauen, Passanten ärgern oder Fallschirmsprünge unternehmen.
Durch Dich kann ich Orte betreten, die mir sonst verschlossen bleiben wie Städte im Himmel oder unter Wasser oder verschollene Ruinen im Dschungel, mit Dir kann ich auf Schatzsuchen gehen, Diktatoren stürzen, Leben retten.
Du stellst mich vor schwierige Entscheidungen. Entscheidungen, die ich im echten Leben nie fällen müsste und die mich ins Grübeln bringen und bestürzt zurück lassen. Durch Dich finde ich Stückchen für Stücken zu mir selbst, teste die Grenzen meiner eigenen Moral und bin auch zu Dingen gezwungen, die ich eigentlich lieber nicht tun würde.
Durch Dich lerne ich Menschen kennen. Bärtige, schlecht gelaunte Menschen, Menschen mit Lederwesten, Menschen mit innerlichen und äußerlichen Narben, Menschen die viel verloren haben, Menschen die nicht aufgeben und mich dazu bewegen, selbst nie aufzugeben.
Durch Dich lernte ich meine Helden kennen.
Du bringst mir vieles bei. Du bringst mir vieles über mich selbst bei und über das was es heißt, zu leben. Leben ist nicht einfach, aber Du machst es leichter. Du inspirierst mich, mit deinen Worten und Zitaten. Du schenkst mir Charaktere, die mich begleiten und mir wieder aufhelfen, wenn ich falle. Die mir die Hand reichen, ein paar Sätze sagen wieso es sich lohnt zu kämpfen und die mich daran erinnern, warum ich hier bin.
Charaktere, deren Lebensweg ich begleiten und beeinflussen darf, so wie sie meinen Lebensweg begleiten und beeinflussen.
Du bist kein Ort, an dem ich mich hinbegebe um der Realität zu entfliehen, denn du gibst meiner Realität Bedeutung.
Bedeutung, die ich sonst vergeblich suche.
Liebe Fiktion,
danke, dass es dich gibt.
<3
Du bedankst dich bei der Fiktion, dass es sie gibt. Dadurch bestätigst du ihre Existenz. Damit ist sie real, also Realität, zumindest ein Teil davon. Sie erweitert die Realität nicht, sondern ist ein essentieller Bestandteil davon, ohne den unser Leben so wie wir es kennen auch gar nicht möglich wäre.
So viel zu meinem semi-philosophischen Wortgeschubse. 😀
—
Das ist richtig schön geschrieben. Wortwahl und Aufbau unterstreichen den Inhalt, den ich übrigens genauso gelungen finde und so unterschreiben mag.
Ja. Ich wollte die Fiktion in diesem Eintrag zu einer Person machen, weshalb ich auch den Stil des Briefes gewählt habe. Der war nämlich zuerst anderes angedacht. Sie ist in der Tat real, ein Bestandteil der Realität und vielleicht nicht die typische „Erweiterung“ (wobei sie ja irgendwie schon so DLC Charakter hat :D) Wichtig war mir darzustellen, dass sie keine Flucht aus dem RL begünstigt ganz unter dem Motto: „Der kommt im wahren Leben nicht klar, also braucht er was anderes.“ Und ich danke Dir für deine Worte! Freut mich, dass es Dir genauso geht.